5.7.2024 In: Strafrecht

Europäischer Gerichtshof stellt fest: Strafsenat des Kammergerichts verletzt europäisches Recht (EuGH - C-288/24 vom 04.07.2024)

In einer am 04. Juli 2024 ergangenen Entscheidung stellt der EuGH die Verletzung europäischen Rechts durch das Kammergericht fest. Das höchste Berliner Gericht hatte - nach Feststellung des EuGH zu Unrecht - eine Strafkammer des Landgerichts anweisen wollen, eine anhängige Strafsache zu verhandeln, obwohl eine hierführ erhebliche Vorlagefrage durch den EuGH (hier C-675/23, Vorlagebeschluss) noch nicht entschieden war. In der Begründung führt europäische Gerichtshof aus, dass Gerichte im Falle bei entsprechenden Vorlagen das Verfahren in Bezug auf vorliegende Grundsatzfragen zurückstellen müssen. Ein Betreiben, welches ein solches Abwarten oder sogar einen Austausch der Richterin durch ein Befangenheitsgesuch durchsetzen möchte, verstößt - so der EuGH - gegen europäisches Recht.

Der Fall:

Die StA Berlin erhebt im Mai 2023 gegen R. Anklage wegen Handels mit BtM zwischen März und Juni 2020. Alleinige Grundlage sind Excel-Tabellen mit EncoChat-Daten. In einem Rechtshilfeordner der Verfahrensakte behauptet die StA, es lägen Rohdaten zu diesen Chats vor, also Daten, aus denen die genutzten Funkzellen, Zeitangaben etc. ersichtlich sind, wie in anderen Fällen auch. Zugleich verlangt die Behörde die Verhaftung des Angeschuldigten.  Die 25. Strafkammer des LG Berlin eröffnet das Verfahren Anfang August 2023, lehnt aber die Verhaftung ab, und beschließt, dem EuGH vor einer Verhandlung der Sache Rechtsfragen zur Beantwortung vorzulegen, die die Verwertbarkeit der EncroChat-Daten betreffen und setzt das Verfahren bis zur Beantwortung der Fragen aus. Auf die Beschwerde der StA Berlin erlässt der 1.Senat des Kammergerichts den Haftbefehl und hebt  am 13. September 2023 die Aussetzung des Verfahrens auf. Der Senat verlangt die Verhandlung vor der Beantwortung der Vorlagefragen.

Die Verteidigung beantragt die Vorlage der Rohdaten, also der json_data und Encrochat.realm Daten, die in anderen Fällen vorliegen und von denen die Staatsanwaltschaft behauptet hatte, diese lägen auch betreffend des R. vor. BKA und Staatsanwaltschaft erklären nunmehr, in diesem Falle über keine weiteren Daten als die Excel-Listen zu verfügen.

Eine Nachfrage der Verteidigung bei dem die Abfangmaßnahme in Frankreich anordnenden Gericht führt zu keiner Herausgabe weiterer Daten.

Wer die Excellisten erstellt hat, ist unbekannt. Das BKA erklärt dazu, diese nicht erstellt zu haben.  

Auf die Beschwerde des Angeklagten hebt die 25. Strafkammer den Haftbefehl am 20.10.2023 auf und verweist darauf, dass gem. Art. 267 AEUV vor einer Beantwortung der Vorlagefragen nicht verhandelt werden kann, da die Frage der Verwertbarkeit der Excel-Listen vorentscheidend für die Beweisaufnahme ist. Der 1. Strafsenat hebt die Entscheidung des Landgerichts mit Beschluss vom 06.12.2023 wiederum auf und ordnet die Wiederverhaftung des Angeklagten an. Die Strafkammer verhandelt weiterhin nicht, weil die Vorlagefragen vom EuGH nicht beantwortet sind. Daraufhin hebt derselbe Senat des KG auf die Beschwerde des Angeklagten am 12.03.2024 den Haftbefehl wegen Unverhältnismäßigkeit auf, weil die Strafkammer "trotz der in der Entscheidung des Senats vom 6.12.2023 nochmals eindeutig und umissverständlch erläuterten Rechtslage auch in der Folgezeit das Verfahren nicht in der rechtlich gebotenen Weise ... durch Anberaumung einer Hauptverhandlung ... gefördert hat."

Die Staatsanwaltschaft Berlin lehnt daraufhin die Strafkammervorsitzende wegen der Besorgnis der Befangenheit ab.  Die 25.Strafkammer legt im Ablehnungsverfahren dem EuGH die Rechtsfrage vor, die der EuGH mit der Entscheidung vom 04.07.2024 beantwortet hat:

1. Art. 267 AEUV ist dahin auszulegen, dass er dem entgegensteht, dass im Rahmen eines Strafverfahrens, das aufgrund der Inhaftierung des Beschuldigten einem Beschleunigungsgebot unterliegt, ein nationales Gericht, das ein Vorabentscheidungsersuchen eingereicht hat, das Ausgangsverfahren bis zur Antwort des Gerichtshofs auf dieses Ersuchen fortsetzt, indem es Verfahrenshandlungen vornimmt, die einen Zusammenhang mit den Vorlagefragen aufweisen.

2. Art. 267 AEUV ist dahin auszulegen, dass er dem entgegensteht, dass ein Richter allein deshalb mit Erfolg abgelehnt werden kann, weil er die Entscheidung des Gerichtshofs über das ihm vorgelegte Vorabentscheidungsersuchen abwartet, obwohl das Ausgangsverfahren eine inhaftierte Person betrifft.

05.07.2024, Rechtsanwalt Eisenberg, Verteidiger des R.

Download der Entscheidung C-288/24 vom 04.07.2024